Ich lese jetzt Tolstois „Chadschi Murat“, aus dem Nachlaß. Es ist immer dieselbe Art, plastisch-historisch, lebendig gewordene Wachsfigurenkabinette, psychologische Wachsfiguren, z. B. der großartig geschilderte wachsbleiche fette Kaiser mit dem nichtssagenden streng-starrenden Antlitz, der weiß, daß er nichts weiß, und dennoch die Geschicklichkeit besitzt, sich immer, in jeder Situation, es einzureden, daß er „zum Heile und zur Ordnung der Welt“ unentbehrlich sei. Aber auf Seite 161 fand ich ein besonderes und bisher, vor allem mir, unbekanntes Sprichwort: „Der Hund bewirtet den Maulesel mit Fleisch und der Maulesel den Hund mit Heu — infolgedessen bleiben beide hungrig!“ Ich finde das wunderbar; es ist ein Bild unseres ganzen tragischen Lebens, besonders dessen zwischen Mann und Frau! Ein jeder bewirtet uns mit einer Kost, die für ihn die beste, für den Bewirteten meistens jedoch die allerschlechteste ist!
Einer meiner sogenannten „Freunde“, andere als „sogenannte“ gibt es nämlich hienieden nicht, würde natürlich sagen, daß dieses Sprichwort einen natürlich ganz anderen Sinn habe als den ihm von mir willkürlich unterlegten, ferner, daß es längst allgemeinst, vor allem ihm selbst, bekannt sei; daß es schon im „Sanskrit“ erwähnt werde und nichts anderes bedeuten könne als die „Güte des Schöpfers allen seinen Kreaturen gegenüber“! Du Esel! Trotzdem halte ich das erwähnte Sprichwort für überaus wertvoll und sinnvoll und glaube nicht, daß ich bis Seite 203, Ende, etwas annähernd ebenso Tiefes finden werde.
Wenn man einmal so weit ist, die Menschen des übrigens alltäglichen Lebens ebenso scharf aufs Korn zu nehmen, wie Tolstoi es tut in seinen Romangebilden, oder wie Charles Dickens und Thackeray in milderer Form, so verringert sich naturgemäß die Distanz zwischen Künstler und Leser. Der Leser weiß einfach ganz dasselbe, ohne sich die lächerliche Mühe zu nehmen, es niederzuschreiben!