In Triest hatte ich im Hotel Excelsior ganz hoch oben ein Kabinett, das eine kleine eiserne Balustrade hatte, von der aus man das Meer sah und rechts die braungrünen Hügel. So sah ich also zum erstenmal das Meer, in meinem 55. Lebensjahr. Abends trat ich an die eiserne Balustrade und betrachtete die weite graue Fläche Wasser. Ich durfte also auch noch ein Meer sehen, und morgen sogar ein Schiff mit Frühstückszimmer, Speisesaal, Kajüten und Deck zum Spazierengehen. Das gütige strenge Schicksal hatte mir das alles aufgespart, gleichsam als Schlußbelohnung eines ereignislosen Daseins. Diese schwebende Stiege an der schneeweißen Wand des Schiffes! Man frühstückt: Teeschale Kaffee, licht, gut passiert, mit Schlagsahne, und fährt zugleich mit Turbine auf dem Adriatischen Meer. Dabei liest man in Intervallen Zeitung und schreibt Ansichtskarten an Annie W. Man zeigt mir freundschaftlich die „italienische Küste“ im fernen weißen Nebel, und ich selbst erblicke braune Segel von Fischerbarken. Das alles ist wundervoll. Meine englische Freundin sagt: „Ich habe es gewußt, daß es Ihnen viel Spaß machen wird!“ Aber es macht mir viel Ernst! Venedig ... also das ist dieses Venedig, mit einem Palazzo Vendramin, in dem mein Gott, Richard Wagner, den letzten Seufzer aushauchte. Hier also ist der große weite, palastumrankte Platz, auf dem sechs reizende Kaffeehäuser sind, mit 1000 Tischen und Stühlen, und wo abends in der Mitte auf eisernem, elektrisch beleuchtetem Gerüste die Banda Municipale spielt. Und gegenüber der Lido, wo die Menschen in Licht, Salzluft und Wasser sich verjüngen und die schönen Frauen wenigstens ihre herrlichen zarten weißen Füße, Zehen, Beine, Knie zeigen. Wenn man dann abends auf dem Markusplatz so eine viertelnackte Nymphe en grande toilette sieht, denkt man: „Bitte sehr, die Schneiderinnen wollen auch leben!“ Bei „Salviati“ sah ich Gläser von der Farbenpracht von exotischen Schmetterlingen, Vögeln und Orchideen. Andere wieder waren düster wie der Himmel vor dem Gewitter und die Seele eines Eifersüchtigen. Viele schienen herausgewachsen zu sein, wie aus Erdreich und Sonnenlicht und Tau und Regen. Aber dazu muß man in den Kanal Grande fahren, in die Ausstellung, da ist die „Glas-Aristokratie“, während sonst überall die schreiende Marktware ist. Parmesan und Paradeis sind die Lieblingsdinge. Man ißt fast alles mit diesen beiden Dingen. Fast zu allem offeriert man dir eine Glasbüchse mit Silberdeckel, in der geriebener Parmesan sich befindet. Die neue Oper von Wolf-Ferrari: „Die neugierigen Frauen“ von Goldoni, Lustspiel, wurde im Goldoni-Theater, hellblau und gold, unübertrefflich dargestellt; Kapellmeister, Orchester, Stimmen, Spiel einfach vollkommen. Wolf-Ferrari ist ein feiner, nobler, geschickter, diskreter — — — jetzt weiß man alles! Gott, daß ihm nichts einfällt, das macht er absichtlich, er ist zu nobel, zu kompliziert dazu, er will nicht melodiös sein, wie alle Modernen, die es nicht können! Was die Mode betrifft, bin ich leider nur für die englisch-amerikanische, während die französische überladen und unnötig ist. „Ich habe Geld, ich habe Geld, es zu bezahlen!“ schreien alle diese Modelle von Hüten und Kleidern, während die englischen und amerikanischen flüstern: „Wir haben so viel Geld, daß wir gar nicht brauchen, es erst zu zeigen!“ Der Meeressand ist wundervoll, ihn durch die Finger gleiten lassen ist eine „ästhetische Wollust“. Rührend ist die ärmliche Vegetation der Küste: Grasbüschel, Akazien, Birken. Bilder habe ich noch keine gesehen. Die Historie versucht es wie ein altes, Opfer heischendes Ungeheuer, hier überall uns von der einfachen Natur abzulenken. Aber bei mir gelingt es ihr nicht, ich bin der „heilige Georg“, obzwar ich Richard heiße, pardon, Peter. Ich weiß, daß man Giotto „Dschotto“ auszusprechen hat, und damit habe ich mich losgekauft. Deckengemälde interessieren mich nicht, man bekommt einen steifen Hals davon. Von Berühmtheiten der modernen Zeiten waren hier außer mir: Heinrich Mann, Jakob Wassermann, Max Oppenheimer, Tilla Durieux, Adolf Loos, Eduard Stucken. „No, und ich bin nix?!“ sagte die Neunzehnjährige, die sich von mir die Hotelrechnung bezahlen ließ. „Welche kann das noch von sich behaupten, daß ein solcher Schmutzian wie du für sie hat bezahlen müssen?!“